Ist die Festsetzung eines Solidaritätszuschlags ab dem Veranlagungszeitraum
2020 weiterhin verfassungsgemäß?
Ja – so entschied das Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 16. Mai 2022 (Az. 10 K
1693/21). Das FG Baden-Württemberg wies die zulässige Klage der Kläger als unbegründet ab.
Die eingelegte Revision ist beim Bundesfinanzhof unter dem Az. IX R 9/22 anhängig.
Entgegen der Auffassung des beklagten Finanzamts sei die Klage zulässig, obwohl hinsichtlich der
Frage, ob der Solidaritätszuschlag verfassungsgemäß sei, die Festsetzung vorläufig ergangen sei.
Die beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfahren (Az. 2 BvR 1505/20, 2 BvL 6/14 und 2 BvR 1421/19) könnten nach
Auffassung des FG Baden-Württemberg unzulässig sein bzw. unterschieden sich vom Streitfall.
Das beim BVerfG anhängige Verfahren 2 BvR 1505/20 richte sich unmittelbar gegen die gesetzliche Neuregelung des Solidaritätszuschlags. Der Rechtsweg sei im Gegensatz zum Streitfall nicht ausgeschöpft worden. Die Verfahren 2 BvL 6/14 und 2 BvR 1421/19 beträfen weder Veranlagungszeiträume nach dem Auslaufen des Solidarpakts II noch die streitgegenständliche Gesetzesfassung des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags (RückfSolZG) ab Veranlagungszeitraum 2021. Diese eröffne im Vergleich zu den vorherigen Gesetzesfassungen neue Streitfragen.
Der 10. Senat des FG Baden-Württemberg war nicht von der Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags überzeugt und wies
die Klage als unbegründet ab. Er berücksichtigte die Gesetzesbegründung zur Einführung des Solidaritätszuschlags
als Ergänzungsabgabe (Ausgleich teilungsbedingter Sonderlasten), die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (verfassungsgemäße
Festsetzung des Solidaritätszuschlags aufgrund der fiskalischen Ausnahmensituation infolge der Wiedervereinigung), das Auslaufen des
Solidarpakts II mit Auswirkungen auf den Finanzausgleich seit 2020 sowie den Sinn und Zweck einer Ergänzungsabgabe (subsidiäres
Finanzmittel zur Finanzierung eines aufgabenbezogenen Mehrbedarfs des Bundes), deren Aufkommen ausschließlich dem Bund zustehe.
Die Ergänzungsabgabe beschränke sich auf Mehrbelastungen des Bundes.
Die Gestaltungsfreiheit ermögliche die Wahl zwischen einer Ergänzungsabgabe und einer Steuererhöhung, solange die dem Bund
und den Ländern zustehenden Steuern nicht ausgehöhlt werden.
Die kassenmäßigen Steuereinnahmen sowie die Höhe des Solidaritätszuschlags belegten jedoch ein angemessenes
Verhältnis.
Entgegen den Ausführungen der Kläger müsse eine Ergänzungsabgabe weder befristet noch nur für einen kurzen
Zeitraum erhoben werden.
Dies gelte im Streitfall auch, obwohl eine verfassungsgemäß beschlossene Ergänzungsabgabe verfassungswidrig werden
könne, wenn sich die für die Einführung maßgebenden Verhältnisse grundlegend änderten. Denn der
wiedervereinigungsbedingte zusätzliche Finanzierungsbedarf des Bundes, z.B. im Bereich der Rentenversicherung, bestehe fort.
Außerdem habe der Gesetzgeber „die konkrete fiskalische Ausnahmelage hinreichend deutlich erkennbar“ gemacht.
Eine genaue Bezeichnung der zu finanzierenden Aufgaben in der Gesetzesbegründung, d.h. die Angabe einer detaillierten Zweckbestimmung,
sei nicht erforderlich. Neue Aufgaben könnten hinzukommen, so z.B. die Finanzierung der Maßnahmen zur Bekämpfung der
Corona-Pandemie und der Ausnahmesituation infolge des Ukraine-Konflikts.
Dieser besondere Finanzbedarf könne zu berücksichtigen sein. Im Haushaltsplan könnte eine entsprechende Feststellung
erfolgen.
Auch die konkrete Ausgestaltung der Festsetzung des Solidaritätszuschlags ab Veranlagungszeitraum 2021 sei verfassungsgemäß.
Freigrenzen und eine „sog. Milderungszone“ seien unter Beachtung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und der
zulässigen Verfolgung von Förderungs- und Lenkungszwecken aus sozialen Gründen zulässig. Diese Maßnahmen mit
stärkerer Besteuerung höherer Einkommen entsprächen dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Sie stellten nach der
Gesetzesbegründung „zudem eine wirksame Maßnahme zur Stärkung der Arbeitsanreize, Kaufkraft und Binnenkonjunktur dar.
Bürgerinnen und Bürger mit mittleren und niedrigeren Einkommen hätten eine deutlich höhere Konsumquote als
Spitzenverdienende, d.h. sie seien typischerweise gezwungen, deutlich mehr von ihrem Einkommen für Güter und Dienstleistungen
auszugeben.“
Im Übrigen sei bereits der Spitzensteuersatz gesenkt und ein Ausgleich geschaffen worden. In Bezug auf die Besteuerung von
Kapitalerträgen gebe es eine sog. Günstigerprüfung, so dass diese Einkünfte entweder mit dem Abgeltungssteuersatz mit
Festsetzung eines Solidaritätszuschlags in voller Höhe auf die Kapitalertragsteuer oder mit dem niedrigeren individuellen
Steuersatz berechnet werden können. Außerdem sei die fehlende Einbeziehung von Körperschaften in die geplante Abschmelzung
des Solidaritätszuschlags infolge der völlig anderen Tarifstruktur zulässig.