So entschied das Finanzgericht Baden-Württemberg (FG) mit Gerichtsbescheid am 31. August 2020 (Az. 2 K 835/19) nach einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Beschluss vom 14. Juni 2017 (Az. 2 K 2413/15) und dem Urteil des EuGHs vom 26. Februar 2019 (Az. C-581/17). Das FG setzte die Einkommensteuer mit 0 € fest und ließ die Revision zu. Diese ist beim Bundesfinanzhof unter dem Az. I R 35/20 anhängig.
Der verheiratete Kläger mit deutscher Staatsangehörigkeit ist zu 50 % an einer Kapitalgesellschaft in der Schweiz beteiligt und deren Geschäftsführer. Im Streitjahr 2011 mietete er eine Wohnung in der Schweiz an. Seine Ehefrau wohnte weiterhin in Deutschland. Der Kläger beantragte die Einzelveranlagung und erklärte in seiner Einkommensteuererklärung, als Grenzgänger nicht im Inland der Besteuerung zu unterliegen. Das beklagte Finanzamt (FA) gelangte zu dem Ergebnis, der Kläger habe infolge seines Wegzugs in die Schweiz einen Veräußerungsgewinn zu versteuern (sog. Wegzugsbesteuerung nach § 6 des Außensteuergesetzes (AStG) i.V.m. § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG), jeweils in der im Streitzeitraum gültigen Fassung). Das FA setzte Einkommensteuer fest. Hiergegen wendet sich der Kläger. Die Besteuerung und sofortige Erhebung der Steuer verstoße gegen das sog. Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz (FZA). Während des Rechtsbehelfsverfahrens änderte das Finanzamt die Steuerhöhe zugunsten des Klägers. Dieser bezahlte die Einkommensteuer „vorläufig“.
Das FG entschied, das Finanzamt habe zu Unrecht die Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der
geschuldeten Steuer vorgenommen. Eine Wegzugsbesteuerung ohne Zahlungsaufschub der geschuldeten Einkommensteuer verletze das Recht des
Klägers auf Gleichbehandlung sowie sein Niederlassungsrecht nach dem FZA. Der Tenor des für den Senat „unmittelbar
verbindlichen Urteils“ des EuGHs sei im „Lichte der Entscheidungsgründe auszulegen“. Das FZA sei Bestandteil der
Gemeinschaftsordnung und anwendbar. Im Falle einer abkommenswidrigen innerstaatlichen Rechtsvorschrift bewirke es deren
Nichtanwendbarkeit.
Der Anwendungsbereich des FZA sei eröffnet. Der Kläger sei Selbständiger im Sinne des FZA und könne sich auf den
Grundsatz der Gleichbehandlung berufen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung sei im Streitfall verletzt. Der Kläger habe sein Recht auf
Niederlassung in der Schweiz ausgeübt und erleide infolge des Wegzugs einen steuerlichen Nachteil. Er müsse Einkommensteuer auf
den Wertzuwachs seiner Beteiligung bereits bei Wegzug zahlen. Dies führe zu einem Liquiditätsnachteil. Ein solcher sei geeignet,
einen Steuerpflichtigen davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gemäß FZA tatsächlich Gebrauch zu
machen.
Die Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Im Streitfall sei zwar die Bestimmung der Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes
in die Schweiz eine geeignete Maßnahme, „um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der
Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland sicherzustellen.“ Dieses Ziel sei jedoch keine Rechtfertigung dafür,
„dass ein Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer unmöglich“ sei. Eine Stundung stelle keinen Verzicht auf die
Befugnis der Besteuerung der Wertzuwächse dar. Ein fehlender Zahlungsaufschub gehe auch über das hinaus, was zur Erreichung einer
wirksamen steuerlichen Kontrolle nötig sei. Das Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz sehe einen Austausch von
Steuerinformationen zwischen den Vertragsstaaten vor. Deutschland könne die notwendigen Informationen über die
Veräußerung der Gesellschaftsanteile erhalten. Außerdem bestehe die Möglichkeit einer Sicherheitsleistung, da es mit
der Schweiz keine Mechanismen der gegenseitigen Unterstützung bei der Beitreibung von Steuerforderungen gebe.
Im Streitfall sei „nicht erst das Leistungsgebot im Einkommensteuerbescheid für 2011 rechtswidrig“, sondern bereits die
Steuerfestsetzung. Der EuGH beurteile das „Steuersystem“. Ein solches sei ein Gebilde, das aus mehreren Komponenten bestehe.
§ 6 AStG enthalte Komponenten der Festsetzung und der Erhebung. Danach bestehe die Möglichkeit, von der sofortigen Erhebung der
Steuer im Falle erheblicher Härten und bei einem Wegzug in das EU-/EWR-Ausland abzusehen, jedoch nicht bei einem Wegzug in die
Schweiz. Insoweit gelte § 36 Absatz 4 Satz 1 EStG, wonach die fällige Einkommensteuer sofort zu zahlen sei. Eine zinslose
Stundung von Amts wegen sehe weder das AStG noch das EStG oder ein anderes Gesetz vor. Infolgedessen werde das nationale Recht den
Bestimmungen des FZA nicht gerecht.